Der Rechtswissenschaftler Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2010 bis 2020, äußerte sich Ende Juni 2021 in einem Gespräch kritisch zur Funktionsweise der Europäischen Union. Voßkuhle glaubte, dass die Europäische Kommission mit dem Gerichtshof der Europäischen Union auf Kosten der Mitgliedstaaten an der Schaffung eines europäischen Bundesstaates arbeite. Die heftige Kritik wirkte sich sehr unangenehm auf die Mainstream-Kräfte der deutschen Politik aus, die die Prozesse in Brüssel dominieren, und so erntete der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts nach seiner Aussage scharfe Kritik und Angriffe.

Noch während Voßkuhles Präsidentschaft hat das Bundesverfassungsgericht 2020 die Europäische Zentralbank (EZB) zu einer ausführlichen Erläuterung ihres 2015 aufgelegten Wertpapierkaufprogramms verpflichtet und damit auch die bisherige Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Luxemburg außer Kraft gesetzt . Auch das Urteil des EU-Gerichtshofs entsprach nach Ansicht der Karlsruher Kammer nicht der ordnungsgemäßen Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts. So die Entscheidung von Voßkuhle und seinen damaligen Kollegen in Roben: "Es ist nicht mehr absolut nachvollziehbar" das Zustimmungsurteil der EK zu den von der EZB an die Mitgliedsländer vergebenen Krediten und deren genauen Gründen.

Vor allem in der Politik, zunehmend aber auch in Rechts- und Fachkreisen herrscht seit langem die Meinung, dass die Machtbalance zwischen den Nationalstaaten und den einzelnen EU-Institutionen in Europa vorzugsweise nach Brüssel verschoben werden sollte. Der Gerichtshof der Europäischen Union dient diesem politischen Bemühen als Werkzeug und entscheidendes Forum; sie kann mit ihren Entscheidungen die aktuelle Ordnung des zentralen Betriebsstaates, die innerhalb der EU bestehenden Gleichgewichtsverhältnisse prägen.

Sie sieht nicht mehr (nur) ihr eigenes Ziel darin, dass EU-Recht von jedem Mitgliedsstaat gleich ausgelegt und angewendet wird, sie will nicht mehr nur neutraler Hüter des Gemeinschaftsrechts sein, sondern durch ihre Tätigkeit als juristischer Dolmetscher und Schlichter von Rechtsstreitigkeiten - mal offen, mal weniger spektakulär - versucht, die eigenen Befugnisse zu erweitern. Voßkuhle selbst hat dem Luxemburger Vorstand immer wieder vorgeworfen, politische Ziele zu verfolgen. Während die natürlichen Spannungen zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof nur im Dialog gelöst werden könnten, betreibe der Europäische Gerichtshof aus Sicht von Voßkuhle eine „kollusive Zusammenarbeit“ mit den anderen EU-Institutionen, was sich seiner Meinung nach beweise die "Mangel an Unabhängigkeit" des Körpers.

Viele Menschen sahen im Kern von Maastricht jahrzehntelang den erfolgreichen Versuch, die „unvermeidliche“ Währungsunion und eine neue Weltwährung zu schaffen, ohne gleichzeitig eine politische Union mit einem föderalen System zu schaffen. Heute jedoch dominiert in Brüssel immer mehr die Sichtweise, die die Union der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa näher bringen würde. Lange dominierte die neoliberale Denkweise (also die Betonung wirtschaftlicher und vor allem marktwirtschaftlicher Aspekte) und gab sich mit der Maastricht-Lösung zufrieden.

Auch die Stabilisierung der gemeinsamen Währung wäre Marktkontrolle und Selbstdisziplin anvertraut worden, aber die Krisen haben gezeigt, dass dies allein kein gangbarer Weg ist. Basierend auf den Lehren der 2000er Jahre sind auch ein leistungsfähiger Staat und nationale Banken notwendig, aber gleichzeitig sahen viele Menschen den Ausweg in der föderalen Zentralisierung Europas, für die Institutionen (wie die Kommission und der Europäische Gerichtshof von Justiz) fing an, als wichtiges Werkzeug zu dienen. Auch das Bundesverfassungsgericht von Voßkuhle ahnte etwas von dieser potenziellen Gefahr, als es etwa 2020 seine Entscheidung traf.

Obwohl die Grundverträge die Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofs enthalten, so dass das Gremium beispielsweise nicht die Vereinbarkeit von internem (nationalem) Recht mit EU-Recht prüfen oder das interne Recht eines Mitgliedstaats auslegen kann, ist eine völlig abstrakte Rechtsauslegung offensichtlich nicht möglich. Der Europäische Gerichtshof versuchte, seine (auch) daraus resultierenden Kompetenzausübungsschwierigkeiten dadurch etwas zu lösen, dass er im letzten Jahrzehnt begann, seine Befugnisse zu Lasten der Mitgliedstaaten auszuweiten.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist nun selbst ein aktiver politischer Akteur, nachdem er etwa 2010 und nachdem er (beispielsweise gegen Ungarn) in Fällen Stellung bezogen hat, in denen andere wichtige Institutionen der EU und seitens der EU-Politiker - in den Debatten in Straßburg und Brüssel - verwendet werden, um auf Rechtsstaatlichkeitsfälle und -entscheidungen hinzuweisen. Dies waren beispielsweise EG-Entscheidungen, die die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz oder Datenschutzbestimmungen stark beeinträchtigten. Und die Rechtsstaatspolitik in Brüssel kann die Verwirklichung von EU-Ideen fördern, die immer mehr in Richtung Föderalismus tendieren und eine immer engere politische Integration unterstützen.

Als Konstruktion sui generis kann die Union jedoch niemals ein europäischer Bundesstaat sein, sie kann kein föderales System sein, sondern muss eine Föderation von Nationalstaaten bleiben, die die Vielfalt und Einzigartigkeit der Staaten bewahrt und die nationale Souveränität respektiert - im Gegensatz zu Victor Hugos Vereinigte Staaten von Europa von 1849 – mit seiner gut gemeinten, aber naiven Idee aufgezogen

Autor: Zoltán Lomnici Jr., Verfassungsrechtler

Quelle: Blog Grundgesetz

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