Der ungarische Ministerpräsident veröffentlichte in den Kolumnen von Newsweek einen Meinungsartikel, demzufolge sich die Truppen der NATO-Mitgliedsländer bereits in der Nähe der ukrainischen Front befinden.

Kurz nach seinem Treffen mit Wladimir Putin, dem ersten Staatschef der Europäischen Union seit Kriegsbeginn, veröffentlichte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einen Meinungsartikel in den Kolumnen von Newsweek. In seinem Schreiben erklärt er, dass das Wesen der NATO darin liege, dass sie als Verteidigungsbündnis funktioniere, und wenn sie davon abweiche, begehe sie Selbstmord.

Die NATO steht vor einem Wendepunkt. Es sei daran erinnert, dass das erfolgreichste Militärbündnis der Weltgeschichte als Friedensprojekt begann und sein zukünftiger Erfolg von seiner Fähigkeit abhängt, den Frieden aufrechtzuerhalten. Doch heute steht statt Frieden das Streben nach Krieg auf der Tagesordnung, statt Verteidigung, Angriff. All dies steht im Widerspruch zu den Grundwerten der NATO. Die historische Erfahrung Ungarns zeigt, dass solche Transformationen nie in die richtige Richtung führen. Die heutige Aufgabe sollte darin bestehen, das Bündnis als Friedensprojekt zu bewahren – schreibt Newsweek veröffentlichten Meinungsartikel

Wir Ungarn befinden uns in einer besonderen Situation, wenn wir eine Erklärung zur NATO abgeben müssen. Unser Beitritt zur NATO war das erste Mal seit mehreren Jahrhunderten, dass Ungarn freiwillig einem Militärbündnis beitrat. Die Bedeutung unserer Mitgliedschaft wird erst im Lichte der Geschichte Ungarns verständlich

- schreibt der ungarische Premierminister.

Laut Orbáns Artikel ist die Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert leider auch die Geschichte von Kriegsniederlagen. Unsere kollektive Erfahrung besteht aus Kriegen, die regelmäßig in föderalen Systemen geführt werden, an denen wir ursprünglich nicht teilnehmen wollten und die mit dem Ziel der Eroberung – oder zumindest einem spezifisch militaristischen Ziel – geschaffen wurden. Egal wie sehr wir versuchten, uns aus den beiden Weltkriegen herauszuhalten, und egal wie heftig wir versuchten, die Länder zu warnen, mit denen wir uns verbünden mussten, jedes Mal erlitten wir eine Niederlage, die Ungarn fast vom Erdboden vernichtete .

Obwohl das Schlimmste nicht eintrat, waren unsere Verluste dennoch enorm. Aufgrund dieser Kriege hatte Ungarn keinen Einfluss auf seine Zukunft. Nach 1945 wurden wir wohl oder übel Teil des Sowjetblocks und damit des Warschauer Paktes, dem Militärbündnis des damaligen Ostblocks. Die Ungarn protestierten mit aller Kraft. Wir haben alles getan, was wir konnten, um den Warschauer Pakt zu stürzen. Im Jahr 1956 schlug unsere Revolution den ersten Nagel in den Sarg des Kommunismus, und als das System schließlich zu stürzen schien, war unser damaliger Premierminister der erste Führer im ehemaligen Ostblock, der (in Moskau!) den Warschauer Pakt erklärte muss aufgelöst werden. Der Rest ist Geschichte. Das uns aufgezwungene Militärbündnis wurde fast sofort aufgelöst, und nur wenige Tage nach dem berühmten Treffen in Moskau besprach der ungarische Außenminister in Brüssel den Beginn unseres NATO-Beitrittsprozesses, schreibt Viktor Orbán.

Wir hatten den natürlichen Wunsch, uns dem Westen anzuschließen

Laut Orbán war das ungarische Volk, als es der NATO beitrat, schon lange – vielleicht fünfhundert Jahre – kein freiwilliges Mitglied eines Militärbündnisses gewesen. Die Bedeutung dieses Umstands kann nicht genug betont werden. Neben unserem natürlichen Wunsch, sich von der sowjetischen Herrschaft zu befreien und dem Westen beizutreten, machte die NATO für uns ein besonderer Faktor attraktiv: Wir schlossen uns schließlich einem Militärbündnis an, bei dem es nicht um Krieg, sondern um die Wahrung des Friedens ging, nicht um aggressive Expansion, sondern um den Schutz uns selbst und einander. Aus ungarischer Sicht hätten wir uns nichts Besseres wünschen können.

Seiner Meinung nach sind wir nach wie vor dieser Ansicht und bisher gab es noch nie Umstände, die dies in Frage gestellt hätten. Dennoch lohnt es sich, kurz darauf einzugehen, warum wir die NATO vor 25 Jahren als Garant für Frieden und Verteidigung betrachteten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Ungarn von seiner natürlichen zivilisatorischen Umwelt – vom Westen – und noch direkter von ganz Europa abgeschnitten. Wir täten gut daran, uns an die Worte von US-Präsident Harry S. Truman zu erinnern, der das Wesen der Allianz bei ihrer Gründung mit folgenden Worten zusammenfasste:

Wir hoffen, mit diesem Pakt einen Schutzschild gegen Aggression und die Angst vor Aggression zu schaffen – ein Bollwerk, das es uns ermöglicht, die eigentliche Aufgabe von Regierung und Gesellschaft anzugehen, nämlich ein erfüllteres und glücklicheres Leben für alle unsere Bürger zu schaffen.

Die Worte von Präsident Truman deckten sich mit dem Wunsch der ungarischen Geschichte: Frieden. Wenn man sie heute liest, wird deutlich, dass das Konzept der NATO ausdrücklich ein Militärbündnis zu Verteidigungszwecken war. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, ein geopolitisches Umfeld zu schaffen, in dem sich die Mitglieder der Allianz gegenseitig schützen. Dies war nicht nur eine Sicherheitsgarantie, sondern auch ein Wettbewerbsvorteil. Gegenseitige Garantien ermöglichen es einzelnen Mitgliedsländern, ihre Ressourcen für die wirtschaftliche Entwicklung statt für die Abwehr militärischer Bedrohungen einzusetzen. Aber die Rede von Präsident Truman hatte noch ein weiteres wichtiges Element: Die NATO bietet nicht nur Schutz und Abschreckung, sondern beruhigt auch externe Akteure.

Heute ist die NATO mit Abstand das mächtigste Militärbündnis der Welt, sowohl was die Verteidigungsausgaben als auch die militärischen Fähigkeiten angeht. Ungarn ist bei der Entwicklung von Verteidigungsfähigkeiten, der Teilnahme an Missionen und der militärischen Entwicklung überdurchschnittlich erfolgreich.

Aber wenn es um die Zukunft der NATO geht, sind wir mit der Mehrheit der Mitgliedsländer nicht ganz einer Meinung.

Heutzutage werden innerhalb der NATO immer mehr Stimmen laut, die die Notwendigkeit – ja sogar die Unvermeidlichkeit – einer militärischen Konfrontation mit anderen geopolitischen Machtzentren der Welt befürworten. Diese Wahrnehmung einer unvermeidlichen Konfrontation wirkt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Je mehr die NATO-Führer davon überzeugt seien, dass ein Konflikt unvermeidlich sei, desto größer werde ihre Rolle bei der Verursachung des Konflikts sein, schreibt Orbán.

Konfrontation als sich selbst erfüllende Prophezeiung

Der sich selbst erfüllende Charakter dieser konfrontativen Prophezeiung wird laut Orbán heute immer offensichtlicher, da den Nachrichten zufolge bereits mit den Vorbereitungen für einen möglichen NATO-Einsatz in der Ukraine begonnen wurde, und zwar sogar

Hochrangigen Berichten zufolge befinden sich die Truppen der NATO-Mitgliedstaaten bereits in der Nähe der ukrainischen Front.

Glücklicherweise hat Ungarn jedoch ein wichtiges Abkommen mit der NATO geschlossen, das unsere grundlegende Rolle im Bündnis anerkennt und uns gleichzeitig von direkten Unterstützungsbemühungen in der Ukraine, sei es militärisch oder finanziell, befreit. Als friedliebende Nation betrachten wir die NATO als Verteidigungsbündnis – und dieses Abkommen trägt dazu bei, dies sicherzustellen. Diejenigen, die für eine Konfrontation plädieren, stützen ihre Argumente typischerweise auf die militärische Überlegenheit der NATO und der westlichen Welt, schreibt der ungarische Ministerpräsident.

Laut dem großen Historiker Arnold Toynbee

Das Ende der Zivilisationen wird durch Selbstmord verursacht, nicht durch Mord

- zitiert Viktor Orbán.

Als mächtigstes Militärbündnis, das es je auf der Welt gab, müssen wir keine Niederlage durch einen äußeren Feind befürchten. Ein äußerer Feind, wenn er überhaupt Verstand hat, wird es nicht wagen, einen Angriff gegen ein NATO-Mitgliedsland zu starten. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein, dass wir selbst die Werte ablehnen, die unser Bündnis geschaffen haben. Der Zweck der Gründung der NATO bestand darin, Frieden und eine stabile wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung zu gewährleisten. Die NATO wird ihren Zweck erfüllen, wenn sie Frieden und nicht Krieg gewinnt. Wer sich für Konflikt statt Kooperation, Krieg statt Frieden entscheidet, begeht Selbstmord, schreibt der ungarische Ministerpräsident.

Laut Orbán sei es natürlich die Aufgabe jedes Mitgliedslandes, neben der eigenen Weltanschauung und Erfahrung auch neue Erkenntnisse in die Strategie einzubringen; Aber diese Weltanschauungen werden durch die unterschiedlichen Erfahrungen verschiedener Länder angetrieben. In dieser Hinsicht ist die gemeinsame Erfahrung westlicher Länder der Sieg – sie haben die Kriege der vergangenen Jahrhunderte einen nach dem anderen gewonnen. Wenn es um die Frage Krieg oder Frieden geht, ist es kein Wunder, dass sie weniger vorsichtig sind.

Die historische Erfahrung Ungarns zeigt jedoch, dass ein Militärbündnis, wenn es von Verteidigung auf Angriff, von Konfliktvermeidung auf Konfliktsuche umschaltet, eine Eintrittskarte in die Niederlage kauft.

Das ist uns Ungarn mit den föderalen Systemen passiert, die uns im 20. Jahrhundert aufgezwungen wurden. Diese föderalen Systeme begünstigten Konflikte und Kriege und scheiterten im Krieg kläglich. Im Gegensatz dazu existierte die NATO von Anfang an als Verteidigungsbündnis. Deshalb ist es unsere Aufgabe, das zu bewahren, wozu es geschaffen wurde: ein Friedensprojekt.

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Beitragsbild: MTI/Szilárd Koszticsák