Heutzutage hat sich in Deutschland der Geist des ungeduldigen Liberalismus ausgebreitet und verallgemeinert. Die traditionelle Wahrnehmung der Lebensordnung wird zurückgewiesen, das Bedrohungsgefühl kleinerer Staaten nicht ernst genommen. Darauf müssen die großen Parteien wie CDU/CSU oder SPD eine Antwort finden.

Als Deutscher stoße ich vor allem in Osteuropa, aber auch in der skandinavischen Welt vermehrt auf die Kritik, dass die Deutschen heute von einem intoleranten Liberalismus geprägt seien. Als Liberaler habe ich lange versucht, diese Kritik zu verteidigen, musste aber zugeben, dass viele der Kritiken durchaus begründet waren. Es gibt fünf Bereiche, in denen unseren europäischen Nachbarn die liberale Ungeduld der Deutschen unangenehm ist.

Da ist zunächst die Abneigung gegen die Nation und staatliche Souveränität. Diese Position ist verständlich, weil Nationalsozialisten und Nationalsozialisten die Begriffe Nation und Patriotismus missbrauchten. Dennoch neigen die Deutschen dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Heutzutage warnen deutsche Politiker, Vertreter der Medien und der Wissenschaft andere Europäer davor, wie schädlich Nationalismus ist und wie wichtig es wäre, die europäische Integration zu vertiefen. Aus philosophischer Sicht könnte das stimmen, aber diese Theorie ist weit entfernt von den Realitäten Europas.

Die Mehrheit der europäischen Staaten besteht aus Nationen, die lange von einer eigenen Souveränität träumen mussten, sie sind oft klein und ihre Bewohner fühlen sich im Schoß der Nation geborgen. Sie misstrauen dem Druck, vor allem aus Deutschland, für noch mehr Integration.

Zweitens: In Deutschland macht sich die Abkehr von der traditionellen Gesellschaftsstruktur zunehmend bemerkbar. Das Narrativ, dass die Rolle der traditionellen Familie in der normalen Gesellschaftsstruktur obsolet sei, setzt sich immer mehr durch. Der Einzelne muss seine Lebenschancen in der freien Gestaltung seines eigenen Schicksals finden – von der Wahl des eigenen Geschlechts bis hin zum Ziel, dass alle ein Studium abschließen oder dass sich alle Frauen in der Arbeitswelt durchsetzen.

In vielen Ländern Mittel-, Ost- und Südeuropas wird diese deutsche Lebensweise zu Recht angezweifelt, die meisten haben ein traditionelles Gesellschafts- und Familiendenken.

Drittens: In den Augen derer, die national und international politisieren wollen, erscheint die Grundforderung, Gerechtigkeit und Gleichheit in den Mittelpunkt zu stellen, abstoßend. Am deutlichsten wird dies bei der Migration. Mehr als die Hälfte der Deutschen fand es 2015 richtig, dass eine Million Menschen auf der Flucht vor Krieg und wirtschaftlicher Not unorganisiert ins Land kommen. Wenn Österreich, Ungarn und Kroatien damals ihre Grenzen nicht geschlossen hätten, wären ein paar Millionen Menschen mehr da gewesen.

Sie sind zwar nicht die Mehrheit, aber es gibt immer noch viele Menschen in Politik und Medien, die im Namen von Menschlichkeit und Gerechtigkeit eine mehr oder weniger grenzenlose Aufnahme von Menschen in Deutschland und Europa fordern. Sie begründen dies oft mit den Verbrechen des Kolonialismus, den Auswirkungen des Kapitalismus oder damit, dass unser Energieverbrauch klimabedingt Millionen Flüchtlinge auf den Weg schickt, die wir dann willkommen heißen sollten. Vor allem in den kleineren Nationen stößt diese deutsche Idee auf heftigen Widerstand.

Viertens: Liberale Intoleranz zeigt sich vor allem darin, dass wir das Bedrohungsgefühl der Ost- und Nordeuropäer unterschätzen. Nachdem die Russen die Krim und Teile der Ukraine annektiert haben, haben die baltischen Staaten, Polen, Schweden und Finnland berechtigte Angst vor einer russischen Invasion. Diese Angst wird durch die Manöver und Truppenverbände der Russen geschürt. Die deutsche Antwort besteht heute überwiegend darin, diese Länder darüber aufzuklären, dass ihre Befürchtungen auf altem, überholtem Denken beruhen ... Nur eine Politik des Rüstungskontrolldialogs mit Russland ist akzeptabel. Diese in Deutschland vorherrschende Sichtweise wird nicht nur von seriösen Experten als utopisch angesehen, sondern auch in den Ländern Mittel-, Ost- und Nordeuropas mit großer Sorge aufgenommen.

Fünftens: Es besteht auch die Gefahr, Klimaprobleme zu verabsolutieren. Es ist unbestritten, dass der Klimawandel eine Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellt und dass eine Transformation unserer Wirtschaft und unseres Lebens sowie technologische Innovationen im großen Maßstab notwendig sind, um den Treibhauseffekt zu stoppen und die Folgen des Klimawandels zu verringern.

Die Art und Weise, wie in Deutschland Klimapolitik im Rahmen liberaler Intoleranz betrieben wird, ist hysterisch, kurzsichtig und arrogant. Sie zielt darauf ab, alle anderen politischen Absichten und Alternativen hinter die von den Grünen diktierte Klimapolitik zu stellen. Ungeduldige, autokratische liberale Klimapolitik bedroht die Demokratie.

Deutschland, dessen Politik von progressivem, postmodernem Liberalismus geprägt ist, ist eine Belastung für Europa.

Autor: Joachim Krause ist einer der Vorsitzenden der Stiftung Wissenschaft und Demokratie in Kiel, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik der Universität Kiel.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung/ungarnreal.de

Übersetzt von Barnabás Zólyom

(Quelle Titelbild: YouTube)