Vielleicht hatte Ungarn in Deutschland noch nie einen so schlechten Ruf wie heute. Die seit Jahren eintönigen deutschen Massenmedien tragen diese Verleumdung auch in die deutsche Gesellschaft hinein, schwächen oder stellen Sympathien für die Ungarn in Frage. Neue Initiativen sind erforderlich, um das gegenseitige Vertrauen zurückzugewinnen. Auszüge aus den Schriften von Zsolt K. Lengyel.

... Zu Beginn des Regimewechsels lebte der traditionelle ungarische Kulturkampf aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wieder auf, in dem eine linksliberale und eine rechtskonservative Strömung das zwiespältige jüdisch-christliche Verhältnis trugen und bewegten mit einem Sinn für kulturelle Identität. Aus diesen Selbstdefinitionen entstanden Anfang der 1990er-Jahre zwei Exklusivitätsforderungen: Für die Linke kann liberal keine nationale Sichtweise sein, für die Rechte kann national keine liberale Sichtweise sein.

1990 versuchte die erste frei gewählte Regierung nach vier Jahrzehnten unter der Führung von József Antall, den an den Prinzipien der persönlichen Freiheit und nationalen Unabhängigkeit ausgerichteten Nationalliberalismus mit christlich-demokratischem Charakter unter den historischen Mustern zu verinnerlichen und zu popularisieren der ungarischen politischen, sozialen und kulturellen Organisation. Aus dieser rechtskonservativen Idee verschwand nach und nach der Liberalismus in den innenpolitischen Prüfungen des Kulturkampfes. Beschleunigt wurde dieser Prozess dadurch, dass der linke Flügel des jungen ungarischen Mehrparteiensystems sein ausschließliches Recht ankündigte, sowohl den Liberalismus als auch die Demokratie zu vertreten. Gleichzeitig lehnte er die nationale Idee nicht nur für sich ab, sondern warf ihren Verteidigern auch Demokratieunfähigkeit vor. Aus diesem Grund warf die Rechte der Linken Nicht-Nationalismus und sogar Anti-Nationalismus vor. Und die Presse und das kulturelle und politische öffentliche Leben in Deutschland mischten sich von Anfang an einseitig in den ungarischen Kulturkampf ein: Sie standen auf der Seite des die Nation ablehnenden Liberalismus – und stehen bis heute, mit über die Jahre gesteigerter Entschlossenheit. ..

... Ab 2010 lehnt das deutsche Lager der liberalen Demokratie die Aktivitäten der ungarischen Regierung entschieden ab und bekämpft das ungarische "Gesellschaftsbild" im Sinne "des weitreichenden Liberalismus des Westens und vor allem Deutschlands". Indem Deutschland im Zweiten Weltkrieg ein waffenfreundliches Land auf den Sockel stellt, kann es sich auch von der jüngeren nationalen Geschichte distanzieren, das heißt, es kann die politische und moralische Güte demonstrieren, deren Gebot das wiedervereinigte Land treu folgt. In der Flut der Kritik findet eine Art ideologische Preisbindung statt, deren politische und gesellschaftliche Wirksamkeit in Deutschland durch die Rede von Viktor Orbán in Tusványos am 26. Juli 2014 noch gesteigert wurde. Darin wurde der zweite der beiden in der Einleitung erwähnten Sätze geäußert, einschließlich der im Ausland berüchtigten Position, dass „der neue Staat, den wir in Ungarn aufbauen, ein illiberaler Staat ist, kein liberaler Staat. Sie leugnet nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie Freiheit, und ich könnte noch einige hinzufügen, aber sie macht diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern enthält einen spezifischen, nationalen Ansatz, der sich unterscheidet davon. Aus diesem im Székelyföld proklamierten ungarischen „Illiberalismus“ lesen deutsche Zeitungen und Portale fast einstimmig auf beiden Seiten der Weltanschauungsgrenzen den Zweck und die Praxis der Einschränkung der Bürger- und Minderheitenfreiheiten, die Abschaffung der Demokratie selbst, und haben dies unaufhörlich verbreitet seitdem. Es gibt kein nennenswertes Forum, das auf den innen- und wirtschaftspolitisch motivierten Gegensatz zwischen dem egozentrischen, wirtschaftsgewinnorientierten Liberalen einerseits und dem nach kulturellem Kommunalismus strebenden nationalen Weltbild andererseits hinweisen würde Erklärung von Orbáns Illiberalismus. Die deutschen Kritiker waren nicht überrascht, dass der leider gebrauchte Begriff nicht Antiliberalismus, sondern fehlenden Liberalismus meint.

Ebenso wie József Antalls Äußerung von 1990 verbreitete sich Viktor Orbáns Staatsorganisationsvorschlag von 2014 nicht mit seiner vollen Glaubwürdigkeit in der deutschen politischen Öffentlichkeit: In beiden Fällen fiel das Wort oder das Textelement durch das redaktionelle Sieb, dessen genaue Bezeichnung hätte liegen können vom Autor geklärt wurde, kann die wahre Absicht hinter dem, was er zu sagen hat, missverstanden und interpretiert werden. Dieser Verstoß gegen eine der goldenen Regeln des Journalismus diente der Rechtfertigung zweier politischer Vorurteile: Antalls ungarischer Revisionismus, Orbáns ungarische Diktatur. Erst letzteres Makel vermittelt das Ungarnbild in seiner ganzen Breite, das das politische Leben und die öffentliche Meinung des heutigen Deutschland prägt, da es Kulturkritik mit Systemkritik verschränkt: es lässt nationalistisch-antisemitische Fremdenfeindlichkeit und menschenrechtsfeindliche Freiheit erscheinen Zubehör der gleichen Abweichung sein.

Indem er den demokratischen Charakter des Illiberalismus des Ministerpräsidenten in Frage stellt, will er glauben machen, dass sich die Vorhersage einer Diktatur in Ungarn seit 2009 erfüllt hat.

Wir leben in einem Zeitalter der Begriffs- und Identitätsverwirrung. Liberale Demokraten sind in ihrem Überlegenheitsgefühl bereit, nur eine Meinung als demokratisch zu akzeptieren und versinken damit im Antiliberalismus. Der europäische Föderalismus will auf eine einzige Abstimmung reduziert werden. Nationales Engagement wird zum Nationalismus degradiert, obwohl es nicht angreift und zerstört, sondern verteidigt und baut.

Betrachtet man die Chancen einer Lösung des ungarisch-deutschen Konflikts – sucht man nach einem Heilmittel für die Entfremdung – gilt es zunächst, den Schlüsselbegriff zu klären, um zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzukehren, in deren Geist ein sinnvoller Dialog vielleicht sein kann neu gestartet. Gleichzeitig gilt es, sich bewusst zu machen, dass die Bruchlinie im ungarisch-deutschen Verhältnis, aber auch in den bedeutenden Beziehungssystemen der Europäischen Union nicht zwischen den Anhängern der Demokratie und der Antidemokratie gezogen wird, sondern auf der einen Seite einerseits diejenigen, die nach Homogenität streben, und andererseits diejenigen, die nach einem Europa streben, das in seiner Vielfalt geeint ist...

... Die schwierige Aufgabe parallel zur Klärung des Begriffs - oder im Anschluss daran - ist die Selbstbeobachtung des ungarischen "Illiberalismus": Deckt sein Name seinen vollen und wahren Inhalt ab?

Diese in ganz Europa heftigen Unmut hervorrufende Konzeptualisierung versuchte sich im letzten halben Jahrzehnt in Richtung sozialchristliche Demokratie auszudehnen, wobei sie ihren wichtigsten Ausrichtungswert, den Rechtsstaat, der auch die Regierungsarbeit einschränkte, jedenfalls beibehielt und teilweise übertrieb. Aus dieser Sicht kann „Illiberalismus“ sogar aus dem ungarischen politischen Vokabular gestrichen werden – schon deshalb, weil er kein bestimmendes Element des ungarischen Staats- und Gesellschaftssystems ist…

...es ist nicht empfehlenswert, die Bedeutung der Prozesse in Deutschland zu unterschätzen. Es ist auch nicht zielführend, irgendeiner Voreingenommenheit nachzugeben und die ideologischen Ränder des einen oder anderen Mediums in eine zentrale Rolle zu rücken. Die Extreme sind Teil des Gesamtbildes, aber weder hier noch dort maßgebend. Jedenfalls wäre es unzumutbar, auf das zu verzichten, was der schwächeren Partei zusteht: die Annahme politischer und moralischer Reinheit auch bei unterschiedlichen oder gegensätzlichen Meinungen. Und wer sich in der Praxis auf diese Annahme verlässt, sollte es wagen, auf Augenhöhe mit den Liberaldemokraten zu stehen.

Quelle und Titelbild: Corvinas

Autor: Zsolt K. Lengyel

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