„Die Deutschen hatten seit der Antike ein besonderes Verhältnis zu den Ungarn. Ihnen verdanken wir die Öffnung des Eisernen Vorhangs in der jüngeren Geschichte. In den letzten Jahren hat sich das Verhältnis zu den Ungarn allerdings deutlich verschlechtert. Es ist Zeit für ein klärendes Gespräch mit einem Experten für die deutsch-ungarischen Beziehungen.“ So beginnt René Nehring, Mitarbeiter der Preußischen Allgemeinen Zeitung, seinen Artikel, der den Autor eines Buches über unser Land, Werner J. Patzelt, befragt hat. Das Interview auf Deutsch kann auf dem Ungarnreal.de .

Herr Patzelt, Sie sind einer der renommiertesten Politikexperten und ein anerkannter Analyst der Verhältnisse in unserem Land. Doch jetzt, wo Deutschland aufregende Zeiten durchlebt, veröffentlichen Sie ein Buch über Ungarn. Warum?

Neun Monate lang war ich zwischen Herbst 2021 und Sommer 2022 Stipendiat am Mathias Corvinus Collegium in Budapest, wo ich über die politischen Verhältnisse in Deutschland lehrte. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, das in den Medien vermittelte Bild von Ungarn mit dem zu vergleichen, was ich selbst erlebe. Und da ich vieles ganz anders erlebt habe, als es hier in Deutschland dargestellt wurde, habe ich beschlossen, mein Bild von Ungarn in einem Sachbuch mit anderen zu teilen. Denn eine meiner Erkenntnisse ist, dass selbst die seit 2010 entstandene wissenschaftliche Literatur zu Ungarn nicht immer genaue Informationen liefert.

Er beginnt sein Buch mit dem Ungarnbild der Deutschen. Wie sieht das aus?

Es gibt nicht nur ein deutsches Bild von Ungarn. Es gibt die traditionellen, auf Filmen basierenden Bilder wie „Ich denke oft an Rotkäppchen“, die die Überreste der Erinnerung an die Habsburgermonarchie widerspiegeln. Darüber hinaus gibt es Bilder von Ungarn, die von Urlaubserlebnissen genährt sind, viele davon wurden von unseren in der DDR lebenden Landsleuten gemalt. Mir geht es vor allem um das Bild Ungarns, das die Medien heute vermitteln. Wichtig zu wissen ist, dass ein sehr kleiner Teil derjenigen, die über Ungarn berichten, nur die Landessprache beherrscht. Die meisten von ihnen leben nicht in Ungarn, sondern in Wien oder Prag. Wenn sie sich über Ungarn informieren wollen, treffen sie Journalistenkollegen oder Vertreter der Zivilgesellschaft in Budapest oder in einer Universitätsstadt wie Pécs oder Szeged. Aber sie stehen dem ungarischen Ministerpräsidenten und seiner Partei Fidesz überwiegend feindselig gegenüber.

Das Problem ist, dass Orbáns Partei in diesen städtischen Zentren in der Minderheit ist, auf dem Land jedoch regelmäßig eine Zweidrittelmehrheit erringt. Da Ungarns Beobachter jedoch selten in diese ländlichen Gebiete gehen, bekommen sie von der Opposition ein verzerrtes Bild von Ungarn, auch wenn sie sich ernsthaft um eine realistische Berichterstattung bemüht. Nach diesem Bild ist Ungarn eine Halbdiktatur voller Korruption, deren Massenmedien zum Schweigen gebracht werden und die dazu dient, den Freundeskreis um den Premierminister zu bereichern. Dies entspricht jedoch weder der Realität des Landes noch der Wahrnehmung der Mehrheit der Ungarn.

Welche Art von Ungarn sollten wir Ihrer Meinung nach kennen?

Schauen wir uns die Anklagepunkte einzeln an. Was das Schweigen der Massenmedien betrifft, so ist die Lage so, dass der Zugang zu den Medien mittlerweile weitgehend zwischen Opposition und Regierung ausgeglichen ist. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk liegt in der Hand des Fidesz, die privaten Medien – insbesondere viele überregionale Printmedien – unterstützen die Opposition. Von einer umfassenden staatlichen Kommunikationskontrolle kann jedenfalls nicht die Rede sein. Übrigens mögen deutsche Beobachter meinen, dass unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk alles andere als ausgewogen sei.

Was die Wahlen betrifft, so ist die Behauptung, sie seien unfrei oder unfair, völlig falsch. Bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 beispielsweise konnte die eigens zu diesem Zweck ins Land entsandte OSZE-Wahlkommission nicht feststellen, dass etwas schief gelaufen war.

Gleiches gilt für Korruptionsvorwürfe. Eines der Leitprinzipien der ungarischen Wirtschaftspolitik ist die Schaffung einer starken, wohlhabenden nationalen Unternehmerklasse, deren Kreditmöglichkeiten das Land weniger abhängig von internationalen Kreditgebern machen. Deshalb versuchen sie sicherzustellen, dass die EU-Gelder im Land ausgegeben werden und nicht an ausländische Unternehmen.

Natürlich ist das Auswahlsystem so gestaltet, dass regierungsnahe Unternehmen in erster Linie von der öffentlichen Beschaffung profitieren. Das ist sicherlich zu kritisieren, aber es muss hinzugefügt werden, dass die Sozialisten dies während ihrer Regierung zwischen 1994 und 1998 sowie 2002 und 2010 nicht anders gemacht haben.

Dennoch entsteht in Deutschland und der EU oft der Eindruck, dass Ungarn als „Orbáns Land“ ein korruptes und autoritäres Regime sei. Darüber hinaus wird der Premierminister in eine Reihe mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und dem russischen Präsidenten Putin gestellt.

Viktor Orbán ist weder Putin noch Erdoğan. Was viele Kritiker an ihm stört, ist, dass er nach vier Jahren im Amt die Wahl 2002 knapp verlor und 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit an die Macht zurückkehren konnte. Und selbst seinen Gegnern gefällt es nicht, dass danach die Modernisierung des Landes und die Erholung der Wirtschaft begannen. Er leitete umgehend umfassende Reformen in der Staatsverwaltung, dem Mediensystem, der Wirtschaft und der Gesellschaft ein. Nach Meinung der Mehrheit der Ungarn hat Orbán einfach Gutes für das Land getan, und genau deshalb wurde er auf der Grundlage eines fairen Wahlgesetzes dreimal in Folge wiedergewählt. Die Situation in Ungarn ist heute im Grunde die gleiche wie in Bayern zur Zeit von Franz Josef Strauß. Er hatte auch Erfolg – ​​und seine politischen Gegner hassten ihn sehr.

Haben Sie während Ihrer Zeit in Budapest auch mit Oppositionspolitikern oder regierungskritischen Journalisten gesprochen?

Natürlich habe ich gesprochen. Ich traf sowohl Oppositionspolitiker als auch kritische Beobachter der ungarischen Situation. Um ehrlich zu sein: Nichts ist einfacher, als die Position der Opposition zu Ungarn kennenzulernen. Der Grund dafür ist, dass die Opposition in westlichen Ländern durch Journalisten und ihr nahestehende NGOs ständig präsent ist und ich so die Positionen der Opposition authentisch darstellen konnte.

Wie sehen die Ungarn Deutschland?

Deutschland galt in Ungarn lange Zeit als großes Vorbild beim Aufbau eines modernen, liberalen und wirtschaftlich starken Staates. Ungarn hatte nie die Deutschlandphobie, die es in Tschechien oder Polen lange Zeit gab. Ungarn ist grundsätzlich ein deutschlandfreundliches Land. Sie errichteten sogar ein Denkmal für die vertriebenen Deutschen. Doch dieses schöne Deutschlandbild ist vor einigen Jahren in den Schatten gestellt worden. Die Ungarn verstehen nicht, wie ein vernünftiges Land eine so unvernünftige Energiepolitik verfolgen kann, warum ein so erfolgreiches Land so wenig nationales Selbstwertgefühl hat und warum sich das heutige Deutschland trotz seiner vielen echten Probleme so sehr auf die eher marginalen LGBTQ-Themen konzentriert.

Aber was denken die Ungarn darüber, dass sie von diesem immer weniger als Vorbild wahrgenommenen Deutschland ständig belehrt werden?

Lange Zeit haben sie solche Auftritte geduldig ertragen. Doch viele Ungarn wurden dieser Ausbildung langsam überdrüssig. Sie nehmen jene Deutschen nicht mehr ernst, die ohne Wissen ihr Land als Halbdiktatur darstellen. Die Menschen distanzieren sich zunehmend von Deutschland. Damit verkümmern die Wurzeln der seit langem so fruchtbaren und nachhaltigen deutsch-ungarischen Freundschaft. Es gibt viele Warnzeichen dafür, aber zu wenige Deutsche merken und verstehen, was sie tun – selbst mit guten Absichten.

Können wir Deutschen etwas von den Ungarn lernen?

Absolut. Die Ungarn sind sehr stolz auf ihre eigene Kultur. Sie gilt als einzigartig und auf jeden Fall erhaltenswert, während in Deutschland einer der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung einmal sagte, dass es die deutsche Kultur nicht gebe, weil sie außerhalb der Sprache nicht zu erfassen sei. Was die Muttersprache angeht, ist deren Schönheit vielen Deutschen – im Gegensatz zur Mehrheit der Ungarn – kaum noch wichtig. Der deutsche Versuch, Anglizismen oder Geschlechtersprache zu verwenden, ist den meisten Ungarn immer noch fremd.

Ein weiterer Bereich ist das historisch-kulturelle Selbstverständnis. Die Ungarn haben kein Problem damit, auf eine tausendjährige Geschichte seit dem Heiligen Stephanus zurückzublicken. Allerdings meint die Mehrheit der Deutschen nicht das elfte oder zehnte Jahrhundert, wenn sie von „tausendjähriger“ Geschichte sprechen, sondern das „tausendjährige Reich“ der Nationalsozialisten – als ob damit unsere gesamte Geschichte gemeint wäre. Die wenigsten Deutschen denken daran, die gesamte Geschichte als Bezugspunkt für ihr Selbstbild zu nehmen.

Die Ungarn verhalten sich ganz anders. Für sie ist die Geschichte präsent und sie ziehen auch Lehren daraus. Zum einen hat der Westen sie immer wieder in Ruhe gelassen. Deshalb legen sie großen Wert darauf, sich an mindestens drei Machtzentren zu orientieren: Das eine ist Deutschland, früher Wien, heute Berlin. Das andere ist Russland und das dritte ist das Osmanische Reich, die heutige Türkei.

Zu seinen Erlebnissen in Ungarn und damit zur Geschichte seines Buches gehört auch, dass er das Land auf Einladung des Mathias-Corvinus-Kollegs entdeckte. MCC wurde von deutschen Medien bereits als „Kaderschule des Orbánismus“ bezeichnet. Wie unabhängig kann Ihre Meinung sein?

MCC ist eine Elite-Bildungseinrichtung, die talentierte junge Ungarn von der Grundschule über das Gymnasium bis zur Universität und darüber hinaus bis hin zur Doktorandenausbildung oder Managementakademien unterstützt. Da mir die Idee von Elite-Incentives schon während meiner akademischen Laufbahn immer am Herzen lag, stehe ich dem MCC-Anliegen positiv gegenüber. Kritiker des MCC bemängeln stets, dass das Corvinus-Kolleg großzügig vom Fidesz-dominierten ungarischen Parlament finanziert wurde. Letzteres ist wahr. Aber was hinderte die sozialistischen Regierungen, die vor Fidesz acht Jahre lang regierten, eigentlich daran, eine ähnliche Institution aufzubauen? Und was meine Unabhängigkeit angeht, denke ich, dass sie genauso klar bleibt, wie ich es ausgedrückt habe. Jeder Leser meines Buches kann erleben, dass darin sämtliche oppositionelle Kritik am ungarischen Regierungssystem enthalten ist – und sich ein eigenes Urteil bilden.

Wenn man sich mit einem fremden Land beschäftigt, ist es unvermeidlich, dass man es nicht mit dem eigenen Land vergleicht. Was haben Sie durch Ihre Arbeit mit Ungarn über Deutschland gelernt?

Deutsche Traumata und Neurosen wurden noch deutlicher. Für viele Deutsche ist es nicht mehr angemessen, die eigene Kultur zu akzeptieren und von ihr zu leben. Den Deutschen stört es auch nicht, dass sie kaum etwas über ihre Dichter wissen. Aber die Ungarn können immer noch die Gedichte von Sándor Petöfi und anderen großen Dichtern ihres Landes zitieren. Und während viele Deutsche ein großes Problem damit haben, „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ zu singen, haben Ungarn kein Problem damit, das Gebet zu singen, das ihre Nationalhymne ist, nämlich: „Gott segne den Ungarn“.

Von 1991 bis 2019 leitete Prof. Dr. Werner J. Patzelt die Abteilung Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden. Forschungsdirektor am MCC in Brüssel.

Titelbild: Dr. Werner J. Patzel Facebook