Die Rechte verfolgt eine Vorbildpolitik, sie will den Erwartungen des Westens nicht gerecht werden. Wir fühlen uns nicht besiegt. Die Linke hingegen steckt im musterhaften politischen Verhalten der 90er Jahre fest. Geschrieben von Ervin Nagy.

Nach dem Systemwechsel herrschte Hurra-Optimismus, wir gehen in den Westen – dachten wir naiv – wo alles schön und gut ist. Im materiellen, spirituellen und natürlich auch moralischen Sinne. Obwohl der Westen die Länder östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs, einschließlich Ungarn, als eroberte Gebiete betrachtete, die es zu kolonisieren galt, waren wir dennoch von der Ankunft der lang ersehnten Freiheit geblendet. Wir bemerkten es nicht einmal und ein großer Teil der Wirtschaft des Landes wurde Opfer einer gewaltsamen Marktübernahme.

Aber auch der Westen hat sich inzwischen verändert. Der Kalte Krieg ging zu Ende, und mit der Siegeseuphorie kamen Stolz und Überlegenheitsgefühle, während Europas „Immunsystem“ völlig zu schwächeln begann. Gerade in einer Zeit, in der sich der Globalismus sowohl kulturell als auch wirtschaftlich intensivierte.

Die Euphorie des Sieges, der nie dagewesene Wohlstand und die von Hybris erkrankten westlichen Gesellschaften wurden zu den ultimativen Opfern des Amerikanismus, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg verschärft.

Der Kontinent verlor seine kulturelle Identität und damit auch seine Souveränität. Westeuropa musste auch politisch zum Handlanger Amerikas werden. Und wir haben uns in dieses Europa integriert.

Außerdem wollten wir alles nachahmen, was wir dort sahen. Vor allem die beneidenswerte Freiheit. Wir wollten kritiklos realisieren, was damals noch nicht die Art von Freiheit war, die wir wirklich wollten. Aus historischen Gründen denken die Ungarn anders über Freiheit als die Menschen im westlichen Teil Europas. Für uns ist Freiheit tatsächlich ein Gemeinschaftserlebnis. Die Autonomie des Einzelnen wird nur dann voll erfahren und gewürdigt, wenn auch unsere Gemeinschaft, in diesem Fall unsere Nation, souverän ist.

Heute ist unsere Meinung zur Freiheit eine der Bruchlinien zwischen den sogenannten rechten und linken Parteien in Ungarn. Auch heute noch hält die linksliberale politische, kulturelle und wirtschaftliche Elite aus Postkommunisten und Liberalen vorbildliches Verhalten für richtig. Der Grund kann der Zwang zur Einhaltung, eine finanzielle Entschädigung, politisches Engagement oder schlichte Naivität sein. Und egal, wie oft sie von zwei Dritteln des rechten Flügels geschlagen werden, der die Musterfolge beendet oder kritisch beobachtet, sie beharren immer noch auf der Verherrlichung des Westens.

Seit 2010 verfolgt die rechte Partei eindeutig eine Vorbildpolitik, sie will den Erwartungen des Westens nicht gerecht werden. Wir fühlen uns nicht besiegt. Tatsächlich haben wir selbst für die Freiheit gekämpft. Die Linke hingegen steckt im musterhaften politischen Verhalten der 90er Jahre fest.

Gerade als der Westen (eigentlich die Vereinigten Staaten, die Westeuropa kontrollieren) seinen Einfluss in der Weltpolitik verloren hat und versucht, mit allerlei identitätspolitischen Ergänzungen zu moralisieren. Multikulturelle Gesellschaft, LGBTQ-Rechte, vegane Bewegung (die einen ideologisch begründeten radikalen Lebensstil darstellt), aufgewacht und so weiter …

All dies bedeutet nicht, dass wir eine scharfe Wahl zwischen Ost und West treffen sollten. (Zurzeit gibt es keinen solch scharfen Kalten Krieg.) Darüber hinaus ist jetzt der aufstrebende globale Süden da, der eine multipolare Welt vor uns projiziert.

Wir müssen auf der einzig guten Seite der Geschichte stehen, auf unserer eigenen Seite, und in Angelegenheiten (nicht bei nebulösen Ideologien) gemeinsam mit jenen Mittel- und Großmächten zusammenarbeiten, die unsere Souveränität nicht einschränken und deren Interesse darin besteht, dass wir uns auch weiterentwickeln.

Es klingt einfach, ist aber schwer umzusetzen. Besonders jetzt, wo der Wind eines neuen Kalten Krieges über unseren Kontinent hereingebrochen ist.

Ungarische Zeitung