Werner J. Patzelt, einer der bekanntesten Politikwissenschaftler Deutschlands und seit Jahrzehnten regelmäßiger Teilnehmer politischer Sendungen im deutschen Fernsehen, hat ein spannendes Buch über unser Land geschrieben. 

1980 schloss er sein Studium der Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Lajos-Miksa-Universität München ab und lehrte anschließend bis 1991 an der Universität Passau. Von 1991 bis 2019 war er Professor für Vergleichende politische Systemforschung an der Technischen Universität Dresden. Von 2021 bis 2022 ist er Gastforscher am Mathias Corvinus Collegium und seit 2022 Forschungsdirektor des MCC in Brüssel. Mitglied der CDU.

Im Jahr 2021 hat Professor Patzelt seine Axt in einen großen Baum geschnitten: Er hat nicht nur seine Vierteljahrhundert-Karriere an der Technischen Universität Dresden aufgegeben, um ein Jahr als Gastforscher am Ungarisch-Deutschen Institut des Mathias Corvinus Collegium zu verbringen, sondern auch Er beschloss auch, Ungarn in seinem Heimatland, das für sie manchmal ziemlich unverständlich ist, mit einem Buch scheinbar politisch zu erklären.

Das Ergebnis dieser Arbeit ist der kürzlich erschienene umfangreiche Band „Ungarn verstehen: Geschichte, Staat, Politik“ die Deutschen uns für Ungarn nicht verstehen.

„Was mir gefehlt hat, war ein Buch über Ungarn und seine gegenwärtige politische Entwicklung, das sowohl Feinde als auch Freunde der ungarischen Fidesz-Regierung zuverlässig informieren kann – insbesondere diejenigen, die ihr Urteil über Ungarn nicht zu Beginn ihres Engagements für das Land fällen wollen.“ aber am Ende davon“ - erklärt den Zweck des Buches des Professors im Vorwort der Arbeit.

Seltsame deutsche Bilder von Ungarn

Im ersten Teil seines Buches beschäftigt sich Patzelt mit den unterschiedlichen Typen von Ungarnbildern, die in Deutschland entwickelt wurden, von naiven Bildern inspiriert durch die Balaton-Urlaube der Ostdeutschen bis hin zu

bis zu dem konstruierten Bild, das die ungarische Opposition in Zusammenarbeit mit den deutschen Medien in Deutschland geschaffen hat.

Es wirft auch ein Licht auf die besondere Bedeutung der Rede von Viktor Orbán in Tusvány aus dem Jahr 2014 zur illiberalen Demokratie in Deutschland. Während wir uns in Ungarn an Konrad Adenauer, den westdeutschen Kanzler nach dem Zweiten Weltkrieg, als einen der Gründerväter Europas und einen der Begründer des westeuropäischen Wohlstands erinnern, habe man in Deutschland, so Patzelt, bereits in den 1970er und 1980er Jahren Es entstand das Bild, man habe die „illiberal-repressive Adenauer-Zeit“ endgültig hinter sich gelassen. Um die Jahrtausendwende lernten die Deutschen das Konzept zwar nicht von Fareed Zakaria kennen, doch es war bereits seit Jahrzehnten Teil ihres öffentlichen Diskurses und hatte einen stark negativen Beigeschmack.

Deshalb wertet Patzelt die Tatsache, dass Viktor Orbán versucht hat, das Konzept der illiberalen Demokratie anstelle der damals für ihn verwendeten autoritären, faschistischen und anderen Adjektive einzuführen, als einen kolossalen Fehler.

und damit „lud er Kritiker seiner Regierungspraxis dauerhaft zur normativen Kritik ein“.

Gleichzeitig stellt er fest: Ungarn ist für ihn eindeutig eine Demokratie.

„Das unter Viktor Orbán systematisch aufgebaute System persönlicher Loyalitätsbeziehungen, das sich zwischen ihm als Verwalter des Landes und den politisch vom Staat abhängigen Finanz- und Wirtschaftsführern erstreckt, steht eindeutig im Widerspruch zu den Grundprinzipien der pluralen Demokratie.“

Gleichzeitig passt ein solches System gut zur Grundidee einer Volksabstimmungsdemokratie.

In solchen Fällen hat ein zu Wahlen berechtigter politischer Führer das Recht, die Führung des Staates während des Wahlzyklus – gerade im Interesse der Demokratie – so auszuüben, dass er in der Lage ist, alle Bereiche der Gesellschaft, die ihm zur Verfügung stehen, wirksam zu gestalten von der Politik beeinflusst.“

- behauptet der Professor für vergleichende Demokratieforschung.

Patzelt beleuchtet in dem Buch auch die Hintergründe des kühlen Fidesz-CDU-Verhältnisses: „Den deutschen Unionsparteien, die seit 2015/16 ihre Machtentgleisung erleben, tut jeder Vergleich mit dem erfolgreichen Fidesz von Anfang an weh.“ , was ihn – da er immer noch fest davon überzeugt ist, dass seine eigene Politik in ihrer Richtigkeit eine Alternative ist – dazu veranlasst hat, sich von Ungarn zu entfernen“, analysiert der Professor.

Das Verständnis werde seiner Meinung nach auch durch die deutlich unterschiedliche Entwicklung des ungarischen und deutschen Mediensystems erschwert.

Während in Deutschland heute die gleiche linksliberale Pressedominanz herrscht wie 2010,

In Ungarn hat die Orbán-Regierung aktive Schritte unternommen, um die Medienbeziehungen auszugleichen. Aus Deutschland – wo die Vorherrschaft der linksliberalen Medien eine natürliche und offensichtliche Sache ist – schien es, dass die „objektive, also richtige“ Presse zunehmend von der „parteiischen, also falschen“ Presse verdrängt wird.

Regierung und Geschichte

Danach klärt Patzelt seine deutschen Leser auf Hunderten von Seiten über die historischen Vorgeschichten auf, die die zeitgenössische ungarische Politik prägen, vom Heiligen Stephan über die Tatareninvasion, König Matthias und Trianon bis zur Rückkehr der kommunistischen Nachfolgepartei im Jahr 1994. Daraus leitet er ab, dass die unterschiedliche historische Entwicklung die Ungarn und die Deutschen zu diametral entgegengesetzten Vorstellungen von Staatlichkeit führt:

die Deutschen „warten auf die Erlösung aus ihrer als durchbohrt empfundenen Geschichte“,

Für sie ist die Perspektive, „von einem ethnisch geprägten Volk zu einer multiethnischen Bevölkerung zu werden und das eigene Land zu einer Art Bundesstaat der Europäischen Union zu werden“, attraktiv.

Im Vergleich dazu sei für die Ungarn „eine Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Begründung bedarf,

dass sie als besondere Nation in einem selbstverwalteten Staat weiterbestehen wollen.“

Ausgehend von diesen unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen fordert er daher die Deutschen, die sein Buch lesen, dazu auf, „zumindest die Vorstellung zuzulassen, dass es möglicherweise andere natürliche Ähnlichkeiten als die ihren gibt“, sonst würden sie Ungarn nicht verstehen.

In diesem Sinne stellt er weiterhin das politische institutionelle System Ungarns vor. Er stellt fest, dass die geringe Größe und Bevölkerung des Landes unweigerlich zur Bildung sektorenübergreifender Familien- und Freundschaftsbeziehungen, Schutz- und Trotzbündnissen und Netzwerken führt. Er beschreibt, dass die Zweidrittelmehrheit der Fidesz nicht auf irgendeine Art von verzerrtem Wahlsystem zurückzuführen sei, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass ihre Popularität auf dem Land ungebrochen sei und da 80 Prozent der Ungarn nicht in Budapest leben, wohl aber die Mehrheit der Wahlkreise zwangsläufig auf dem Land sein - in Budapest hingegen hat der Fidesz kaum eine Chance, den Ball zu treten. Es zerstreut auch den Mythos, dass

dass der Überschuss an Wahlkampfressourcen der Regierungsparteien eine Art autoritärer Charakterzug Ungarns ist:

„Das ist sozusagen anderswo in Europa üblich, das ist der Vorteil früherer Wahlerfolge.“

Politische Kultur

Auch aus ungarischer Sicht ist das Kapitel vor der Analyse der wichtigsten politischen Maßnahmen der Orbán-Regierung, in dem es um die politische Kultur Ungarns geht, sehr lehrreich. Daraus lernen wir, dass die Polarisierung des ungarischen öffentlichen Lebens wirklich beispiellos ist („sie ist hinterlistig bis zur Selbstgefälligkeit, polemisch bis zum Punkt des persönlichen Hasses und so hartnäckig, dass sie sogar die Tatsachen ablehnt, wenn die Gegenseite sich darauf beruft“) ).

Beschreiben Sie auch, unterstützt durch Zahlen,

wie passiv die ungarische Gesellschaft im öffentlichen Leben ist

nicht nur hinsichtlich seiner zivilen Aktivität im Vergleich zu Deutschland, das in der Mitte Europas liegt, sondern auch im Vergleich zu den anderen Visegrád-Staaten – und zwar weit entfernt von 2010, sondern erst seit dem Regimewechsel.

Statt einer aktiven Zivilgesellschaft gehe es in unserem Land „viel mehr um ein Land, in dem ein „gutwilliger Landeshauptmann“ – aber nur ein nachweislich wohlwollender und erfolgreicher –

er ist bereit, sich zu unterwerfen, solange seine persönlichen Freiheiten nicht beeinträchtigt werden.

- sagt Patzelt.

Ebenso wird auf der Grundlage von Daten die Meinung widerlegt, dass Ungarn „Anti-EU“ sei, was hierzulande wie völliger Unsinn klingt, im Ausland aber weit verbreitet ist. Er charakterisiert die Haltung der Ungarn gegenüber der EU wie folgt:

„Sie sehen einen Wert in der EU als einer Zone gemeinsamer Sicherheit und Wohlstands, in der die Nationalstaaten Europas ganz selbstverständlich und in ihrem eigenen Rahmen – in gegenseitigem Respekt und auf der Grundlage gemeinsamer Grundregeln – weiterbestehen werden alles behalten und pflegen können, was ihnen gehört, und vielleicht wirklich nur ihnen, es ist einfach wichtig.“

Insgesamt hält er es für sehr wichtig, Ungarn anhand der Besonderheiten der ungarischen politischen Kultur zu interpretieren und nicht in einem universellen, oberflächlichen Rahmen: „Es würde nicht schaden, zu versuchen, das Regierungssystem und die Politik Ungarns grundsätzlich im Lichte von zu verstehen.“ die besonderen kulturellen Voraussetzungen und die historische Entwicklung des Landes – und zwar nicht nur nach den historisch oft zu oberflächlichen Kategorien der vergleichenden Demokratieforschung“.

Orbán-Land?

Das vielleicht wertvollste Kapitel seines Buches ist das Schlusskapitel, in dem „Orbánfölde!“ steht. und „Orbán-Land?“ Unter dem Titel werden zwei parallele Erzählungen über Ungarn gleichermaßen überzeugend, fundiert und in einer logischen Reihenfolge angeordnet. Eine davon ist die Erzählung der Opposition über den Abstieg Ungarns von einem Musterland zu einem abschreckenden Beispiel, über die Etablierung autoritärer Regierungsführung, ihre ideologischen Feigenblätter und die Machtausübungsmethoden der ungarischen Autokratie.

Das andere ist das Narrativ der Regierungspartei über die konservative Revolution von 2010.

über Ungarn, das als Alternative zum liberalen Staat aufgebaut wird, über seine kulturellen und politischen theoretischen Grundlagen sowie darüber, wie die Mehrheit die Ergebnisse von 13 Jahren sieht.

Im Nachwort überlässt er dem Leser die Entscheidung, welche Erzählung von „Orbánfölde“ er als gültiger anerkennt, bietet aber Kriterien für die Entscheidung an. Zum Beispiel die beiden möglichen Wahrnehmungen von Korruption in Ungarn: persönliche Bereicherung und intransparente Machtausübung einerseits und die Bildung ungarischen Kapitals und das Gegengewicht zum neoliberalen Netzwerk, das durch spontane Privatisierung entstanden ist, andererseits.

Er verrät, was Niccolò Machiavelli über Viktor Orbán sagen würde,

er schildert seine Meinung zur Funktionsweise der Opposition in Ungarn – und schließt am Ende mit einer durchaus brillanten Parallele zu Bayern.

Darin heißt es, dass der Freistaat Süddeutschland zwischen 1966 und 2008 von der Christlich-Sozialen Union (CSU) so regiert wurde, dass kein Politiker einer anderen Partei jemals einen Ministerposten innehatte. Unter ihren drei charismatischen Politikern, Alfons Goppel, Franz-Josef Strauß seit 10 Jahren und Edmund Stoiber seit 8 Jahren, erhielten sie auch zahlreiche Korruptionsvorwürfe, und nicht alle davon waren unbegründet.

War Bayern in diesem langen halben Jahrhundert eine „Wahlautokratie“, eine „CSU-Halbdiktatur“,

vielleicht „simulierte Demokratie“? Oder war die lange und stabile Macht der CSU darauf zurückzuführen, dass „die bayerische Regierung bei der Entwicklung des Landes Ergebnisse hervorgebracht hat, die von der Bevölkerung mit Zufriedenheit aufgenommen wurden“?

In traditioneller Patzeltianer Manier überlässt er auch hier die Antwort dem Leser – allerdings ist hier schon einigermaßen vorhersehbar, zu welcher Erklärung der Autor tendiert. Und allein dieses Kapitel ist für uns Ungarn lesenswert. Na ja, auch für die Deutschen.

Mátyás Kohán / Mandiner

Ausgewähltes Bild: Facebook-Seite von MTI/Viktor Orbán